Der Nationalpark Jasmund

Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde und Förderer des Nationalparkes Jasmund e.V.

Nr.14                                                   Februar 1999


Klassische Reisebeschreibungen (IV)

Auszug aus: Kosegarten, "Briefe eines Schiffbrüchigen" (3)

...Nie aber werd' ich der interessanten Mannichfaltigkeit dieser malerischen Landschaften vergessen, deren stiller Reiz bisweilen auch zum Edlen und Erhabnen emporstieg. Nicht selten veredelten die Höhen sich zu schrofferen Abstürzen. Übermüdet aber hing mein Auge an der majestätischen Wasserfläche, die itzt hinter waldreichen Höhen sich versteckte, itzt siegprangend hinter ihnen hervortrat, und mitten in ihrem Schooße allezeit, blitzend in vollem Sonnenglanze, das prächtige Arkona.

Gegen zehn Uhr Vormittags etwa erreicht' ich ein Dorf, Namens Hagen, das im Eingange der Stubbenkammer liegt. Ich nahm mir hier einen Führer, der durch die Labyrinthe der Stubniz mich zur Stubbenkammer bringen möchte. Der Wald bedeckte die ganze nordöstliche Strecke der Halbinsel, versorgte seit Jahrhunderten die Einwohner Wittows und Jasmunds mit Brenn- und Nutzholz, schien aber itzt schon ziemlich licht und ausgehauen zu seyn. Ohne die weisen Veranstaltungen des lezten Generalstaathalters, welcher die Anzahl der Fuder, die jährlich aus der Stubniz hinausgeschleppt werden durften, fixirte; die Zweige und Äste, die man vorhin an Ort und Stelle liegen und verfaulen ließ, ebenfalls zu verbrauchen befahl, und überdies mehrere Torfgruben öffnete, welche Vorrath auf Jahrhunderte versprachen - möchte die ganze Waldung binnen wenig Menschenaltern vertilgt, und Wittows Einwohner würden genöthigt seyn, ihr fruchtbares aber rauhes Eiland zu räumen. Mein Führer, der selbst zu den Aufsehern des Waldes gehörte, versicherte mich, daß jährlich mehr denn zehntausend Stämme gefället worden, daß alle das Vieh der Hagenschen Bauern, welchen unglücklicher Weise die Stubniz in ihren Contracten zur Trifft angewiesen worden, ungleich mehr, und den ganz jungen Anflug beinahe völlig aufriebe.

Eine halbe Stunde wanderten wir in der immer finstrer und dichter sich drängenden, zugleich auch über den Meeresspiegel immer höher sich hebenden Waldung, als mit einmal der Wald sich lichtete, der Boden uns ermangelte, das überraschte Auge hinunterstarrte in eine schwindelnde Tiefe, und schnell sich hob, um im Anschaun des weiten hehren Meeres sich wieder zu sammeln. "Dies, sagte mein Führer, ist die Stubbenkammer!" und wies in einen Schrund hinunter, dessen Eingange zwei aufrechtstehende Kreidepfeiler das Ansehn einer Pforte gaben. "Dies, sprach er, ist der Königsstuhl!" und zeigte mir eine Kreidezacke, die aus der platten Wand hervortretend zu einer unersteiglichen Zinne emporstieg. "Dies" ... wollt' er fortfahren, allein ich ließ ihm nicht Zeit, seinen Spruch zu vollenden.

Ungeduldig, die verschiednen Parthien dieses herrlichen Gestades selbst zu erkundschaften, und ihres Eindrucks ohne einen lästigen Dritten, der noch dazu den Cicerone schien spielen zu wollen, zu genießen, entlief ich ihm, und eilte, die äußerste und höchste, mit weitwipfligen jahrhundertalten Buchen bekränzte Ecke des Vorgebirges zu ersteigen. Zur Rechten desselben zeigte das Gestade sich am kühnsten, mahlerischesten und imposantesten ...

Eine Art von Talus hat sich hier vom Meerstrande auf, bis etwa an die Mitte des Ufers hinangebildet. Sein sanftansteigender Rücken ist vom allbelebenden Hauch der vegetirenden Natur mit mannichfaltigem Gesträuche und Gebüsche überzogen, dessen itzt gelbliches Laub mit der weißen Kreide des Ufers im schönsten Abstich stand. Ueber den lachenden Talus herüber hängt ein erstaunlicher Kreidenflöz, lothrecht abgeschnitten, gigantisch drohend ... ein Obelisk des Demiurgus - 0 wie schrumpfeten diesem Babelgedanken des Schöpfers gegen über die sieben Wunder der alten Welt, und die neun und neunzig der Neuen in meinem Sinne zusammen zu kindischen Spielereien.

Verloren und verwildert in mir selber, knieet' ich an der Allmacht nicht mit Händen gemachten Altare, hinabgeschmettert ins Gefühl meines eigenen Nichts, und wiederum sanft emporgehoben durch den stolzen Gedanken, daß wir gleichwohl Seines Geschlechts sind, und daß ER es ist, in dem wir leben und weben!

Mein Führer fragte mich, ob ich nicht Lust habe, das Gestade von unten auf zu sehn? Allerdings. sagt' ich; und nun führt' er mich auf einem schräge sich schlängelnden Pfade zuvörderst auf jenen Talus herunter. Der Pfad war hin und wieder ziemlich steil; und da es die Nacht vorher geregnet, die Kreide mithin sehr schlüpfrig war, so glitscht' ich mehr denn einmal von dem schmalen Stege herunter in eine rauschende See von abgefallnen, seit mehreren Herbsten in diesen Tiefen aufgehäuften Blättern. Auf der Hälfte des Weges machten wir einen kleinen Halt. Die Gebüsche hinderten hier alle Umsicht. Nur jene gigantische Kreidewand stand itzt prachtvoll und majestätisch über unsern Häuptern.

Während ich auf einem krummen Aste sitzend dies Kolosseum der Natur anstaunte, ging mein Führer hin, und schöpfete aus einem in der Nähe plätschernden Bache einen Trunk des alleredelsten und allerlebendigsten Wassers. Erstärkt durch seine wohlthätige Kühlung, stiegen wir den Rest des Abhanges mit minderer Beschwerde hinunter, und erreichten - die Sonne stand grade im Meridian - den Meerstrand. Gestein von allen Farben, Formen und Größen bedeckt ihn, mitunter auch erstaunliche Granite und Quarze. Auf einem der mächtigen Blöcke vom schönsten Korn lagerte ich mich, und betrachtete den Bau und die Zusammenfügung des Ufers. Das ganze ist reiner Kreidenflöz, durchsezt jedoch in abgemessenen Entfernungen mit horizontalstreichenden Schichten von Feuerstein. Die Höhe des Ufers mag zwischen vier und fünfhundert Ellen betragen. Die Ansicht verändert und vermannichfaltigt sich ins Unendliche, und würde selbst einem Salvator Rosa unerschöpflichen Stoff zu den interessantesten Partieen geben.

Mein Führer erzählte mir viel von einer gedoppelten Höle, die zwischen Kreidepfeilern befindlich seyn sollte. Auch erinnert' ich mich, in Schwartzens Einleitung in die Geographie des nördlichen Deutschlands mittler Zeiten gelesen zu haben, daß ihn ein Kavalier des Landes versichert hätte, er habe in seinen jüngern Jahren in den Kreidepfeilern eiserne Kammern gefunden. Diese Kammern erinnerten mich an die verrufnen eisernen Ringe, die Buffon in den Mauern von Tangern gefunden haben wollte, die de Luec sorgfältig suchte, und nicht fand. Mit der Existenz dieser Kammern stand und fiel nun zwar keine Hypothese. Inzwischen entschloß ich mich doch, die Sache zu untersuchen. Mit Mühe und nicht ohne Gefahr klomm' ich die stickele und äußerst schlüpfrige Kreidewand hinan, bis zu den Pfeilern. Ich erstaunte über ihren Bau, ihre Höhe, Menge, und zum Theil barocke Figuren; fand aber, wie ichs erwartet hatte, weder Höle noch Kammern. Itzt wollt' ich wieder umkehren; und siehe da! ich hatte mich festgeklettert. Den Weg, oder vielmehr Umweg, den ich heraufgestiegen war, wieder zurückzusteigen, war augenscheinliche Halsgefahr. Die Höhe vorwärts däuchte mir aber so schroff und schwindelnd, daß ich, der ich die Gymnastik des Kletterns wenig geübt hatte, mir kaum zutraute, sie erklimmen zu können. Inzwischen war doch dies das Einzige, was mir zu wählen übrig blieb. Um zu dem gefährlichen Gange die nöthigen Kräfte zu sammeln, sezt' ich mich auf einen dürren Baumstamm, der zur Hälfte in die Kreide verschlämmt, zur Hälfte aus dem Ufer hervorragte, ein paar Minuten lang nieder, und ergözte mich an dem Gedanken, daß ich mich hier auf einem Fleck befände, welcher vielleicht noch nie durch den Fuß eines Sterblichen wäre entweihet worden. Dann stieg ich die Höhe frisch hinan. Die Aestchen, Steinchen, losen Kreidebrocken, die aus der Uferwand hervorsprangen, dienten mir zu Leitersprossen, an denen ich mit den Händen mich festhielt, und mit den Füßen auf ihnen ruhte. Nicht wenige freilich brachen unter mir, und rollten in die schaudernde Tiefe hinunter. Behend', und ohne hinter mich zu schauen, klomm' ich dennoch glücklich vorwärts ... erreichte itzt die Gegend, wo die Kreide in Lehmen übergeht ... dann jene, wo der Lehmen sich zu einer lockern Dammerde veredelt. Diese glitt unaufhaltsam unter meinen Fersen zurück, so daß ich mich mit Händen und Füßen gleichsam hineingraben mußte, um nur einigermaßen festen Fuß zu fassen. ... Itzt sah' ich die grünen Sträucher über den Abhang herunterschimmern. Ich nahm meiner Sehnen lezte Kraft zusammen und schwang mich wohlbehalten auf das sichere Gestade. Kraft und Athem aber waren mir so ganz entgangen, daß ich platt auf den Boden niederfiel, und wohl eine halbe Stunde lag, eh ich wieder zu mir selber kam. - Mein Führer, welchem unbemerkt ich den mißlichen Spaziergang gemacht hatte, und der nicht wußte, wo ich möchte geblieben seyn, schrie und rief mir von unten. Ich antwortete ihm, so viel meine gänzliche Erschöpftheit es mir erlaubte, von oben. Nach einer Weile kam er vermittelst des gewöhnlichen Pfades wieder zu mir herauf, kreuzte und segnete sich vor meinem kühnen Unterfangen, und sagte, er habe es nicht für möglich gehalten.

Wir öffneten nun unsern Kober, und ließen, was Gott bescheerte, uns trefflich schmecken. Während mein Führer sich an seinem Fläschchen labte, lief ich hin, und trank Kraft und Leben aus dem edlen Felsenquelle. - Hatt' ich Bürgers Lyra oder Theokrits Haberrohr wahrlich, edler Quell, ich wollte dir die Unsterblichkeit geben, die jener dem Negenborn gab, und dieser der Arethuse.

Nach genossenem Mahle und einem kurzen Mittagsschlummer auf dem feuchten Rasen ließ ich meinen Führer mich zu dem Burgwall und Burgsee führen. Wir erreichten sie in einer Viertelstunde. Es ist der schauerlich-schönste Fleck in der ganzen Stubniz. Ein mächtiger Wall, gekränzt mit Buchen von ehrwürdigem Alter und Ansehn, umschließt ein ovales Revier, in dessen Bezirke zwischen halbvermoderten Wurzeln und Baumstümpfen mancherlei Trümmer von Altären und Opfermaalen zerstreut umher liegen. Hart neben dem östlichen Rande des Walles fließt in einem tiefen beinah zirkelrunden Kessel der sogenannte Schwarze oder Burgsee, umufert mit dichtbewaldeten Höhen ...

Heimlicher, verborgner, abgeschiedner konnte die gefürchtete und gefeyerte Hertha schwerlich wohnen, als an den Ufern diese Sees, und in den Schatten dieses Burgringes. Betrachtet man nemlich die natürliche Beschaffenheit dieser Gegend, und überläßt ihren Eindrücken sich unbefangen, so drängt sich einem die Ueberzeugung unwiderstehlich auf, daß dies der Fleck, der Wald, der See gewesen, deren Tacitus in seiner Schilderung der Germanen gedenkt. "Es liegt", schreibt er, "im Schooße des Ozeans eine Insel, und im Innern der Insel ein geweihter Hayn. Hier hat die Göttin ihren Wagen, der jedem andern verhüllt, von keinen als von Priesterhänden berührt werden darf. Bemerkt der Priester, daß die Göttin in ihr Heiligthum herabgestiegen sey, so bespannt er den Wagen mit Kühen, und führt die Göttin mit großer Ehrerbietung umher. Ueberall ist nun Jubel und Freude. Jede Gegend, die die Göttin ihres Besuches würdigt, feiert. Die Waffen ruhen. Das Kriegsgetümmel schweigt. Schwerdter und Lanzen werden sorgfältig versteckt, bis die Göttin, des Umgangs mit den Sterblichen überdrüßig, wieder in den Tempel zurückgeführt wird. Wagen und Gewänder, und die Göttin selber, wenn mans glauben will, werden dann in einem geheimen See gebadet, die Diener aber, die bei dem Bade aufwarten, auf der Stelle von dem See verschlungen." - Vergleicht man die Beschreibung mit der so genau zutreffenden Beschaffenheit dieser Gegend, und erinnert sich dabei der noch immer gangbaren Sagen der Einwohner, daß nämlich in diesem Burgwalle vor Zeiten der Teufel angebetet worden, daß die Priester zu seinem Dienste eine Jungfer unterhalten, und wenn er derselben überdrüßig gewesen, sie in dem Burgsee ersäuft hätten, so verschwindet wirklich aller Zweifel, daß Tacitus Insel Rügen, und sein geweihter Hayn die Stubniz gewesen sey, was auch Aretine und Pontanus, imgleichen mein lieber Freund Friedrich Münter sagen mögen, jene, um ihrem Helgoland, dieser, um seinem Seeland die Ehre des Herthadienstes zu vindiciren.

- Jedoch, Liebe, ich vergesse mich. Es ist tief Mitternacht. Die Mädchen haben sich eine nach der andern zur Thür hinaus zur Ruhe geschlichen. Die Baucis dieses Hauses ist längst über ihren Rocken eingenickt, und Vater Philemon schnarcht fürchterliche Stücke auf seinem Rohrstuhle. Itzt will ich noch einmal hinausgehn, und zusehn, wie Wega und Kapella in den regen Wellen flimmern; dann aber auf die Streu mich strecken, die ich in dem erträglichsten Winkel dieser Stube mir habe bereiten lassen. Gute Nacht also!


Hinweise, Kommentare und Vorschläge bitte an teschke@mathematik.hu-berlin.de

Letzte Änderung: 21.04.1998

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