Der Nationalpark Jasmund

Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde und Förderer des Nationalparkes Jasmund e.V.

Nr.14                                                   Februar 1999


Naturnähe und Vielfalt - Ziele im Nationalpark?

Viele werden sich beim Lesen dieser Überschrift fragen, wieso das Fragezeichen hier steht. Ist es wirklich berechtigt an dieser Stelle?

Ich möchte in diesem Beitrag versuchen zu zeigen, daß die oft geäußerte Vorstellung: wo Naturnähe ist, dort ist auch Vielfalt (oder Biodiversität, wie es wissenschaftlich heißt), so nicht stimmt. Ich weiß, daß diese Ansicht nicht leicht zu verstehen ist und im traditionellen Naturschutz auch immer wieder angezweifelt wird. So steht in den meisten Verordnungen/Gesetzen zum Schutz der Nationalparke, daß u.a. neben der Naturnähe auch die "natürliche Vielfalt ..." geschützt werden soll. Doch zuerst noch einiges zu den Grundlagen.

Im Kreislauf der natürlichen Waldentwicklung werden, ausgehend von den kahlen Flächen, verschiedene Entwicklungsstadien unterschieden. Beginnend mit dem Pionierwaldstadium in dem vor allem die Lichtbaumarten (z.B. Kiefer und Birke) eine Chance haben, entwickelt sich der Wald über ein sogenanntes Zwischenwald-stadium, in dem die Eiche, die Ulme und auch die Esche hinzutreten, hin zum sogenannten Klimax- oder Hauptwaldstadium, in dem bei uns die Buche die dominante Baumart ist. Wenn keine großen Störungen des Waldökosystems auftreten (z.B. flächige Schäden durch Sturm oder Feuer), was bei der Buche kaum zu erwarten ist, wird kein neues Pionierwaldstadium mehr eingeleitet.

Es läuft innerhalb des Hauptwaldstadiums ein "kleiner" Kreislauf mit Verjüngungs-, Optimal- und Zerfallsphase ab (siehe auch Skizze am Ende des Textes). Im Nationalpark Jasmund befinden wir uns im Hauptwaldstadium und können verschiedene Phasen des „kleinen“ Kreislaufes auf den unterschiedlichsten Flächen beobachten. Wer genauer hinschaut wird jedoch sehen, daß ,zumindest bei den Baumarten, wir dabei sind Vielfalt zu verlieren. Die Buche ist so dominant, daß andere Baumarten, die z.T. vorher da waren (in der Regel menschlich gefördert), kaum eine Chance haben. Untersuchungen aus slowakischen Buchennaturwäldern zeigen, daß dies ein völlig natürlicher Prozeß ist. Im Haupt- oder auch Klimaxwaldstadium dominiert unter natürlichen Bedingungen meist nur noch eine Baumart. Das heißt, mit steigender Naturnähe läßt bei den Baumarten die Vielfalt nach. Nun kommen natürlich die Freunde der Insekten und Pilze und sagen, mit steigendem Totholzanteil steigt auch die Anzahl dieser Organismengruppen. Gerade die nicht auffälligen Arten, kleine Totholzbewohner, kommen dann in größeren Mengen vor.

Der Zusammenhang mehr Totholz - mehr Arten stimmt erst einmal bei dieser Betrachtung. Das heißt aber noch nicht, daß Naturwälder artenreicher sind, eine höhere Biodiversität besitzen, als Wirtschaftswälder. Auf einer Tagung in Bad Driburg wurden Untersuchungen der Uni Freiburg vorgestellt, die zeigen, daß der oft hergestellte Zusammenhang: höhere Naturnähe = höhere Vielfalt (Biodiversität), so nicht stimmt. Vielfalt im Wald ist abhängig vom Strukturreichtum der Bestände. Das war die heiß diskutierte Haupterkenntnis der Tagung in Bad Driburg. Deutlich wurde, daß Totholz natürlich ein wichtiges Strukturelement ist, aber bei weitem nicht das Einzige. In den Untersuchungen wurden verschiedene Flächen aus Wirtschaftswäldern und alten Naturwaldreservaten miteinander verglichen. Es wurden nicht nur Vegetationsaufnahmen gemacht, sondern auch Insekten verschiedener Artengruppen vom Boden bis in die Baumkronen erfaßt. Auch Pilze waren das Objekt der Untersuchungen. Deutliches Ergebnis war der oben erwähnte Satz, daß Vielfalt vor allem mit Strukturreichtum zusammenhängt.

In den sehr monotonen Buchenbeständen bringt jeder stärkere Totholzrest Strukturen und damit Vielfalt mit sich. Die größte Strukturvielfalt weisen jedoch Mischbestände mit Eichen auf. Gerade die Eiche mit ihrer rauhen Borke und hohem Totastanteil in der Krone bietet viele Kleinstrukturen für Insekten und Pilze. Im Buchenoptimum, in dem wir uns im Nationalpark Jasmund befinden, ist die Eiche jedoch nur vorübergehend im Zwischenwaldstadium vorhanden. Das heißt, mit steigendem Anteil der Klimaxbaumart Buche verringert sich die Vielfalt. Selbstverständlich ist sie höher als in totholzarmen Buchenwirtschaftswäldern. Aber bereits in gemischten Wirtschaftswäldern steigt die Vielfalt. Da Pilze auf Grund ihrer effektiven Verbreitungsstrategie über Sporen und Wild auch nur geringe Mengen stärker dimensionierten Totholzes benötigen, kann in gemischten Wirtschaftswäldern, in denen die moderne Forstwirtschaft einen höheren Totholzanteil beläßt, eine höhere Vielfalt (auch an Pilzen und Insekten) auftreten als in unseren recht monotonen Buchennaturwäldern. Dies ist zumindest das Ergebnis der Untersuchungen der Uni Freiburg. Gleichzeitig wurde jedoch auch sichtbar, daß Strukturen stark zeitlich gebunden sind. So kann man derzeit im Nationalpark Jasmund größere geschlossene Altbuchenkomplexe finden und nur vereinzelt finden sich Windwurf- und -bruchlöcher darin. Aber wer genau die Vorgänge verfolgt, wird die Veränderungen der letzten Jahre selbst am Königsstuhl sehen.

Die Forderung Naturnähe und Vielfalt zeigt auch unsere statische und räumlich begrenzte Betrachtungsweise. Die Begriffe lassen sich nicht statisch fassen. Im Kreislauf der Natur ist immer Bewegung und das, was wir sehen, ist nur ein kleiner, für unseren geistigen Horizont faßbarer Ausschnitt. Gerade im Zusammenhang mit der Eichenborke oder dem Totholz wird deutlich, daß wir die vielen kleine Pilze und Tiere, die dort leben, oft gar nicht in unsere Betrachtungen einbeziehen. so ist das Auftreten attraktiver (und auch medienwirksamer) Arten im Naturschutz, wie Adler oder Orchideen, weder ein Merkmal für Naturnähe noch für Vielfalt. So gibt es Adler auch in bewirtschafteten Wäldern, wie der Granitz. Und die Vielfalt der Kalktrockenrasen mit ihren Orchideen in den Kreidebrüchen würde ohne unser Eingreifen allmählich verschwinden. Nach einer (noch relativ artenreichen) Verbuschung würde ein eintöniges (aber naturnahes) Buchenstangenholz über längere Zeit dominieren, ehe mit der Zerfallsphase stärkeres Totholz Strukturen schafft, die wieder eine höhere Vielfalt mit sich bringen.

Leitarten im Naturschutz haben zwar viel geholfen und bewirkt, aber für einen Nationalpark kann das nicht der Maßstab sein. Hier soll der Natur die Möglichkeit gegeben werden, sich unter den derzeitigen Bedingungen selbst zu entwickeln, ohne daß wir lenkend eingreifen. Ob es dann unserer Vorstellung von Naturnähe oder Vielfalt entspricht, ist völlig nebensächlich. Selbst wenn in einem Nationalpark (medienwirksame) "Leitarten" des Naturschutzes verschwinden, dann ist das eben so.

Nationalpark heißt "Natur, Natur sein lassen". Auch wenn es manchmal schwer fällt, sollten wir gerade in diesem menschlich stark beeinflußten Mitteleuropa der Natur Raum geben, sie selbst zu sein, unabhängig von allem, was wir ihr sonst noch so an Schwierigkeiten auf den Weg mitgeben (Treibhauseffekt, Bodenveränderung durch Schadstoffeinträge usw.). Selbst die internationalen Regeln machen Zugeständnisse, indem sie für die Anerkennung von Nationalparken die Erfüllung der Kriterien nach IUCN bereits ab 75 % der Fläche tolerieren. Bei den Voraussetzungen die der Nationalpark Jasmund hat, läßt sich die natürliche Entwicklung gut verwirklichen. Wir brauchen keine Leitarten, es zählt, was die Natur tut. Schauen wir uns an, wie Sie es unter diesen jetzigen Bedingungen tut. Vielleicht können wir sogar davon lernen.

Gerd Klötzer


Hinweise, Kommentare und Vorschläge bitte an teschke@mathematik.hu-berlin.de

Letzte Änderung: 18.02.1998

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